Introvision und Hochsensibilität

Introvision in den unterschiedlichen Anwendungsgebieten, das ist von großem Interesse für alle, die die Introvision in ihrer Berufs- und Beratungspraxis anwenden. Unsere Kollegin Sonja Löser hat Erfahrungen mit Introvision bei Hochsensibilität gemacht und diese in folgendem Beitrag zusammengefasst.

Introvision bei Hochsensibilität. Die eigenen Grenzen erkennen und wahren

Dünnhäutiger, sensibler, empfindlicher – diese Eigenschaften werden hochsensiblen Menschen zugeschrieben. Welche Sinne es betrifft, die Stärke der Ausprägung und die Art der Folgen sind individuell. Zunächst löst das Wort in unseren Introvisions-Ohren Unbehagen aus: Bitte nicht schon wieder so ein „Hoch-Thema“. Doch Hochsensibilität taucht immer wieder in Beratungsgesprächen auf – auch im Rahmen der Migräne-Studie IntroMig. Elaine N. Aron verdeutlicht in ihrer Abhandlung „Sind Sie hochsensibel?“, dass Hochsensibilität keine Krankheit, sondern – mit wenigen Ausnahmen – eine genetisch bedingte Eigenschaft ist. Sie schätzt die Zahl der Betroffenen auf ca. 30% der Weltbevölkerung.

Was bedeutet es, hochsensibel zu sein?

Stark vereinfacht ausgedrückt: Die äußere Grenze, die vor zu vielen Sinneseindrücken schützen soll, ist nicht so robust wie bei nicht-hochsensiblen Menschen. Die meisten hochsensiblen Menschen nehmen mehr Sinneseindrücke wahr, wie z. B. mehr Details oder auch Stimmungen der sie umgebenden Menschen. Folglich müssen mehr Informationen verarbeitet werden. Das allein schon kann anstrengend sein und die Kapazität der Informationsverarbeitung arg beanspruchen. Oftmals kommen Vergleiche und Bewertungen hinzu, seien es eigene oder fremde. „Andere schaffen das doch auch. Warum kann ich nicht jeden Abend in der Woche nach Feierabend noch etwas mit Freunden unternehmen?“ Dies trägt dazu bei, dass sich Betroffene im Vergleich zu nicht-hochsensiblen Menschen beispielsweise unzureichend oder scheinbar weniger leistungsfähig fühlen, denn die Norm prägt in unserer Gesellschaft die Mehrheit.

Introvision trainiert die Wahrnehmung

Hochsensibilität ist also weder Krankheit noch ein übermenschliches Phänomen. Es ist eher so, dass die Wahrnehmung etwas anders funktioniert. Für diejenigen, die unter den Folgen ihrer Hochsensibilität leiden, könnte Introvision eine Möglichkeit sein, mehr Ruhe und Gelassenheit zu finden. Mit dieser Form der mentalen Selbstregulation lässt sich die Wahrnehmung trainieren. Es kann dadurch leichter werden, die eigenen Grenzen zu erkennen und im nächsten Schritt auch zu wahren. Erst wenn ich mir darüber bewusst bin, was mir zu viel, zu laut oder zu nah ist, kann ich Alternativen entwickeln. Das ermöglicht, das Leben ein Stück weit weniger anstrengend einzurichten. Ich lerne, meine Aufmerksamkeit zu lenken und Dinge, Informationen oder Geräusche auch mal an mir vorbeifließen zu lassen.

Es gibt viele Menschen, die hochsensibel sind und darunter nicht leiden, vielleicht weil sie in einem verständnisvollen Umfeld aufgewachsen sind oder ähnlich veranlagte Menschen als alternative Vorbilder hatten. Wer hochsensibel ist und sich immer an der Mehrheit misst, läuft jedoch Gefahr, sich zu überfordern oder unzureichend zu finden.

Mit der Introvision wollen wir dabei unterstützen, zunächst mehr darüber zu erfahren, was es bedeutet hochsensibel zu sein und wie sich das konkret im eigenen Leben und in der eigenen Wahrnehmung auswirkt. Ein erster möglicher Schritt zur Veränderung ist ja bekanntlich die Erkenntnis. Bei unserer Arbeit mit der Introvision erfahren wir immer wieder, dass Sach-Informationen (egal ob zu Tinnitus, Migräne, Verspannungen, Stress, Schlaf oder eben auch Hochsensibilität) dabei helfen, besser zu verstehen: Was ist da bei mir los?

Das Wissen ermöglicht im Idealfall, die Erkenntnis, anders als die meisten anderen zu sein, leichter in das eigene Leben zu integrieren. Ich brauche zum Beispiel mehr Zeit, mich auch von schönen Ereignissen wie ein Familienfest zu erholen.

Da sind wir aber immer noch bei der „Theorie“. Es handelt sich um Erkenntnisse, die hilfreich sind, in der Regel jedoch nicht zu langfristigen Veränderungen führen. Diese werden möglich, wenn wir eine Ebene tiefer ankommen, nämlich bei den Emotionen.

Was ist für mich das Unangenehme daran, wenn ich den Eindruck habe, nicht so leistungsfähig oder belastbar zu sein wie andere? Welche Gefühle gehen damit einher, wenn ich merke, mir wird gerade alles zu viel? Mit Hilfe der Übungen des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens (KAW) können wir lernen, die Dinge so zu sehen wie sie sind und nicht so wie sie sein sollten. Wir fangen mit Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören und Spüren an, um anschließend zur gedanklichen Eben zu kommen. Bei dieser kann es dann darum gehen, wertfrei wahrzunehmen:

„Es kann sein, dass ich schon genug habe, obwohl die Party gerade erst los geht.“

„Es kann sein, dass meine Nachbarin die 40 Std. Stelle, zwei Kinder und ein ausgefülltes Freizeitleben super unter einen Hut bekommt – und ich nicht.“

„Es kann sein, dass ich weniger belastbar bin als andere.“

Mit Hilfe des KAW lerne ich, meine Wahrnehmung zu trainieren, meine Grenzen klarer zu erkennen und diese auch ernst zu nehmen. Solange ich mir nicht darüber im Klaren bin, wo meine Grenzen verlaufen, merke ich meistens erst zu spät, wenn sie überschritten werden. Wenn ich lerne, mich und meine Grenzen zu würdigen und ernst zu nehmen, fällt es meistens auch leichter „nein“ zu sagen, zu gehen, oder was auch immer nötig ist. Andersherum ist es auch gut zu wissen: Ich überschreite jetzt bewusst meine Grenzen und brauche danach zwei Tage für mich, um mich davon zu erholen. Aber dann ist es eine Entscheidung und ich bin dem Geschehen nicht ausgeliefert.

Wer sich hier angesprochen fühlt und darauf brennt es auszuprobieren, kann zunächst mit kleinen Beobachtungen im Alltag beginnen:

  • Eine Situation, in der Sie entspannt und ruhig sind. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und versuchen Sie in sich hineinzuspüren: Wie fühlt sich Ihr Körper an? Woran merken Sie, dass Sie entspannt sind? Was ist um Sie herum (Raum, Geräusche, Bewegungen…)? Was geht Ihnen durch den Kopf?
  • Eine Situation, in der Sie angespannt sind: Versuchen Sie eine Weile lang die Dinge, die Sie umgeben ohne Bewertung wahrzunehmen. Schauen Sie einen Gegenstand an und versuchen Sie nur zu sehen, was dort auch tatsächlich ist. Gedanken, die evtl. automatisch dazukommen, lassen Sie absichtlich wieder vorbei ziehen. Was hören Sie, wenn Sie nicht einordnen, sondern nur hinhören, wie das Geräusch sich anhört? Was spüren Sie? Wo nehmen Sie das Zentrum Ihrer Anspannung wahr? Was genau ist zu viel und seit wann? Was könnte Ihnen helfen, um aus der Anspannung herauszukommen? Was brauchen Sie jetzt gerade?

Manchmal hilft es schon, sich den IST-Zustand ansehen, wodurch genug Abstand gewonnen werden kann, um wieder klarer zu sehen und handlungsfähiger zu werden. Aber manchmal reicht dies jedoch nicht: Je emotionaler aufgeladen eine Situationswahrnehmung ist, umso schwerer fällt es den meisten Menschen, in einer nicht-wertenden Haltung verweilen zu können. In der Regel bedarf es einer Zeit des Trainings, um sicher und auch in turbulenten Lebenssituationen darauf zurück greifen zu können. Daher gibt es in der Introvision ein erprobtes Übungsverfahren zum Erlernen des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens, mit dem Ziel, die Methode im Alltag selbständig anwenden zu können. Es geht auch darum, die positiven Seiten der Hochsensibilität kennen und nutzen zu können, dabei aber mehr Kontrolle und Absicht zu entwickeln. Was bisher vielleicht eine Belastung war, könnte zu einem wertvollen Schatz werden. Stellen Sie sich einmal vor, es wäre möglich, den Sinneseindrücken um Sie herum nicht mehr so ausgeliefert zu sein wie bisher und sie könnten steuern, wann Sie wieviele Informationen, bzw. auch wie nah sie diese an sich heranlassen. Wenn dieser Gedanke Sie anspricht, könnte Introvision eine gute Möglichkeit sein, sich diesem Ziel zu nähern. Natürlich können wir niemandem irgendetwas versprechen, aber wir haben viele positive Entwicklungen begleiten dürfen. Klient*innen oder Teilnehmer*innen von Kursen berichten von wachsender Handlungsfähigkeit, weil sie mehr bei sich sind und sich den zuvor stark belastenden Dingen wie Migräne-Attacken, Panik-Attacken und vieles mehr, nicht mehr so ausgeliefert fühlen wie vor der Introvision.

Wer weiter gehen möchte, kann perspektivisch versuchen herauszufinden, wie der ganz individuelle Umgang mit der eigenen Hochsensibilität aussehen kann und was es bisher schwer gemacht hat. Dafür bieten sich Einzelcoachings bei erfahrenen Introvisionsberater*innen an.

Wenn Sie mehr über die Introvision erfahren möchten, können Sie den Einstieg über Fachliteratur, Kurse, Online-Kurse oder individuelle Beratung/ Coaching versuchen. Bei Fragen wenden Sie sich gerne an uns!

Autorin: Sonja Löser & Petra Spille

 

Zum weiterlesen:

Hochsensibilität

Aron, Elaine E. (2005): Sind Sie Hochsensibel? München: mvg-Verlag.

Introvision

Empl, Monika; Spille, Petra; Löser, Sonja (2017): Introvision bei Kopfschmerzen und Migräne. Die innovative Methode zur Selbsthilfe. München: mvg Verlag.

Wagner, Angelika C. (2011): Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte. Mentale Selbstregulation und Introvision. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Fassung. Stuttgart: Kohlhammer.

Wagner, Angelika C.; Kosuch, Renate; Iwers-Stelljes, Telse (2016): Introvision – Problemen gelassen ins Auge schauen. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.

 

Bildnachweis (Hand): Photo by Miguel Bandeira, unsplash.com